Wake Me Up When September Ends

Mecklenburg-Vorpommern hat seit einigen Wochen bundesweite Medienöffentlichkeit. Das ist für das „Land am Rand“, welches als sechstgrößtes Bundesland lediglich 69 Einwohner pro Quadratkilometer entlang der Ostsee beheimatet, etwas Bemerkenswertes. Nicht die neusten Rekorde des Tourismus noch Fragen der Energiewende sind von Interesse – das Stimmungshoch und letztlich der Wahlerfolg der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) am 4. September 2016 lässt Mecklenburg-Vorpommern aus dem Schatten am Rand der Republik treten.

Versucht man die Veränderung des Wahlergebnisses 2016 zu erklären, lohnt ein detaillierter Blick auf mögliche Faktoren der Wahlentscheidung aber mehr noch auf die Wahl 2011 und die Strukturmuster des Wahlverhaltens. Es erschließt sich schnell, dass das AfD-Ergebnis nicht zu den langen Linien des regionalen Parteienwettbewerbs passt. Neue und kleine Parteien hatten in Mecklenburg-Vorpommern traditionell kaum Chancen. Bündnis 90/Die Grünen etwa sind 2011 zum ersten Mal in den Landtag eingezogen. Darüber hinaus gab es seit 2006 mit der NPD eine rechtsextreme Partei im Landtag. Ihr Vorhandensein im Zusammenhang mit einer bis 2011 sukzessive gesunkenen Wahlbeteiligung zeigen bereits einige Aspekte die die regionale politische Kultur des Bundeslandes ausmachen und neben einer speziellen – populistischen – Ansprache den Grundstein für den Erfolg der AfD gebildet haben.
Abseits dieser Besonderheiten war die SPD seit 1998 in der Lage, aus einer koalitionsstrategisch günstigen Mittellage die Regierung mit Die LINKE (1998-2006) oder der CDU (2006-2016) zu stellen. Der seit 2008 amtierende Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) hatte sich als gebürtiger Nordrhein-Westfale ein Image als Ossi- und Russland-Versteher aber vor allem als Landesvater erworben. Mit diesem Rahmen im Hinterkopf ist es bemerkenswert, dass die SPD in den Umfragen des Wahljahres (siehe Abb. 1) bis August hinter der CDU lag. Die AfD war in der seriösen Meinungsforschung von Anfang an stark mit einem leichten Trend nach oben. Die LINKE verbuchte leichte Verluste. FDP und Bündnisgrüne lagen stabil auf unterschiedlichen Seiten der 5-Prozent-Hürde.

In dieser Gemengelage war der Wahlkampf bilderlastig und in mancher Hinsicht bei den etablierten Parteien von einem „weiter so“ und weniger durch einen offenen Bezug auf das bundespolitische Überthema Geflüchtete, Zuwanderung und Integration geprägt.

Die SPD setzte etwa auf einen klaren Leistungsbilanz-Wahlkampf mit starker Fokussierung auf Erwin Sellering. Unter dem Motto „Gemeinsam auf Kurs“ wurden zwei Themenspektren hervorgehoben: „Starke Wirtschaft und gute Arbeit“ sowie „Sozialer Zusammenhalt“. Daneben nutzte der amtierende Ministerpräsident die Bundesöffentlichkeit um sich sehr deutlich gegen das „Wir schaffen das.“ der Bundeskanzlerin Angela Merkel zu stellen.

Die CDU verzichtete diesmal auf Wortspiele mit dem Namen ihres Spitzenkandidaten à la „C wie Zukunft“, was der CDU 2011 bundesweite Aufmerksamkeit beschert hatte, und vertraute programmatisch sowie in Plakatform auf den Begriff Heimat. Lorenz Caffier setzte in der Außendarstellung auf sein Image als kompromissloser Innenminister. Dementsprechend war Innere Sicherheit das Hauptthema des CDU-Wahlkampfes.

Die Linkspartei wollte der AfD und CDU den Heimatbegriff nicht überlassen und versuchte ihr integratives Verständnis von Heimat unter dem Slogan „Aus Liebe zu M-V“ zu kommunizieren. Mit Spitzenkandidat Helmut Holter und einer deutlich verjüngten Liste gab es eine „Hinterkopfkampagne“ und das soziale Miteinander stand im Fokus.

Die Bündnisgrünen setzten in ihrem Wahlkampf auf einen klaren Angriffswahlkampf gegenüber der AfD. Mit Plakaten wie „Gegen Rechts und Populismus“ sowie einer eigens geschalteten Internetseite http://alternativ-fuer.de/ positionierte sich die Partei sehr deutlich gegen den Rechtsruck im Land. Das war insofern überraschend, weil die Partei bei bisherigen Wahlen am wenigsten von der Wählerabwanderung zur AfD betroffen war. Indes wurden eigentliche Grüne Kernthemen, wie Energiepolitik und Umweltschutz, nicht aus den Augen verloren.

Die FDP präsentierte sich mit der Spitzenkandidatin Cécile Bonnet-Weidhofer in neuen Farben und mit einer jungen Kampagne, die auf Digitalisierung und Bildung ausgerichtet war. Mit Blick auf „Das junge MV“ sollten neue Wählerschichten angesprochen werden.

Die seit 2006 im Landtag vertretene NPD machte im Wahlkampf aggressiv Stimmung gegen Flüchtlinge und Zuwanderer. Mit dem Spitzenkandidat Udo Pastörs wollten sie den dritten Einzug in das Schweriner Schloss schaffen. Dabei ging es ihnen vor allem darum, als „Original“ gegenüber der AfD wahrgenommen zu werden.

Der Wahlkampf der AfD war durchsetzt von emotionalisierten bundespolitischen Themen – von Russlandsanktionen über „GEZ“ abschaffen bis zur strikten Ablehnung der Haltung der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik. Landes- und Sachthemen traten dabei in den Hintergrund. Politikverdrossenheit, Unmut und Enttäuschung wurden von der Partei mit ihrem „Dagegen-sein“ aufgegriffen.

Dass mit Ausnahme der AfD die Parteien in der Grundausrichtung ihrer Kampagnen ein Stück weit an der potenziellen Wählerschaft vorbeiredeten, zeigt sich in der Erhebung der wahlentscheidenden Themen. Bei vergangenen Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern waren die Themen Arbeit, Innere Sicherheit und Bildung entscheidend für die Wählerinnen und Wähler. In einer Umfrage aus dem Monat August 2016 gaben allerdings 34 Prozent der Befragten an, dass „Zuwanderung, Integration und der Umgang mit Flüchtlingen“ die wichtigste Rolle für sie spielt. Erst danach folgen die Themen Soziale Gerechtigkeit und Arbeit. Damit wurde der Landtagswahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern, genauso wie die drei Märzwahlen dieses Jahres, vom Bundesthema Asyl und Zuwanderung überlagert. Dass laut dem Königsteiner Schlüssel nur etwa 2 Prozent der Asylsuchenden in den Nordosten kommen und dass viele Menschen das Land bereits wieder verlassen haben, spielte kaum eine Rolle. Sehr lebhaft wurde von der CDU, der AfD aber auch der SPD die „unbegrenzte“ Zuwanderung kritisiert. Das Landesthema Integration der Geflüchteten fand dagegen den Weg in die Öffentlichkeit so gut wie nicht. Im Zuge der Fokussierung auf Asyl profitierte insbesondere die AfD. 70 Prozent ihrer Anhänger empfanden das Thema Flüchtlinge und Zuwanderung als wahlendscheidend.

Die Landtagswahl liegt hinter uns. Wo stehen die Parteien? Die SPD hat ihre führende Rolle behauptet, CDU und Die LINKE sind geschwächt, die Bündnisgrünen sind nach guten Umfragen im Wahljahr, durch eine Wählerwanderung innerhalb des linken Lagers, knapp an der 5-Prozent-Hürde gescheitert und die NPD ist nicht mehr im Parlament vertreten. Die Ergebnisse der nicht koalitionsfähigen AfD – 20,8 Prozent Zweitstimmen und 3 Direktmandate – bedeuten Herausforderungen für die eigene Partei aber mehr noch für das Bundesland. Durch die Stärke der Rechtspopulisten gibt es beispielsweise nur 18 Frauen im neuen Landtag. Das ist mit 25,35 Prozent der niedrigste Anteil seit 1990. Weiterhin steht mit Blick auf die acht anderen AfD-Fraktionen im Raum, inwieweit die Fraktion im Wahlkampf zurückgestellte Konflikte nun mehr oder weniger offen austrägt. Letztlich muss sich die Partei Fragen nach ihrer parlamentarischen Performanz gefallen lassen. Denn im Schweriner Schloss kann man zwar „Merkel muss weg“ rufen aber mit Landtagsarbeit hat dies nichts zu tun.

Mit dem Wahlergebnis (Tab. 1) im Hintergrund stellt sich unmittelbar die Frage von möglichen Koalitionen. Faktisch sind eine Fortsetzung der „Großen Koalition“ von SPD und CDU sowie eine Verbindung von SPD und Die LINKE denkbar. Erstere Variante hätte mit 42 Sitzen gegenüber den 37 von rot-rot eine klarere Mehrheit im Schweriner Schloss. Erprobt sind allerdings bereits beide Optionen.

Bündnis 90/Die Grünen befinden sich wie vor 2011 in der außerparlamentarischen Opposition. Die gute Präsenz als kleinste demokratische Oppositionsfraktion im Landtag hat durch die Rahmenbedingungen des Wahlkampfes nicht für eine ausreichende Mobilisierung gereicht. „Grüne Politik“ wie etwa die Energiewende wurde durch die SPD/CDU Landesregierung umgesetzt. Mit Sicherheit nicht in der vollen Intention der Bündnisgrünen aber so, dass es für viele Wählerinnen und Wähler als erledigt gilt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Landesverband immer noch im Flächenland Mecklenburg-Vorpommern eher strukturschwach ist (Mitglieder und Ressourcen). Ab dem 5. September 2016 muss der Blick nach vorne gerichtet sein, das Land ist in der Zukunft weiter auf die Grüne Partei angewiesen.

Mecklenburg-Vorpommern und alle politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure tun gut daran, die Landtagswahl mit ihrem Ergebnis als Chance zu begreifen. Es ist nicht der Zeitpunkt mit einem schlichten „weiter so“ in der Großen Koalition darauf zu hoffen, dass die Rechtspopulisten wieder von der parlamentarischen Bildfläche verschwinden. Noch weniger ist es angebracht, eine Ausgrenzung zu debattieren oder zu praktizieren sowie eine Einheitsfront aller demokratischen Kräfte auszurufen. Was kann eine Antwort auf das von der AfD skizzierte Bild der „Altparteien“ sein? Pluralismus, eigene Zukunftskonzepte sowie eine Auseinandersetzung über Inhalte. Dies sind Bausteine auf dem Weg, um Bürgerinnen und Bürger wieder für die eigene Partei zurückzugewinnen.

Autoren: Jan Müller und Christian Nestler, Mitglieder der Arbeitsgruppe Politik und Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock

Veranstaltungstipp: Wie hat Mecklenburg-Vorpommern gewählt? Analyse und Diskussion der Landtagswahl

Mo, 12.09.2016, 19.30 Uhr | Frieda 23, Friedrichstr. 23, Rostock

Am 4. September 2016 wurde in Mecklenburg-Vorpommern der neue Landtag gewählt. Wer ist drin und wer ist draußen? Wer hat wen gewählt? Welche Besonderheiten gab es?  Wie viele Menschen haben von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht? Und was bedeutet das Ergebnis für die Demokratie?

Die Politikwissenschaftler Martin Koschkar und Christian Nestler, Mitglieder der Arbeitsgruppe Politik und Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern an der Universität Rostock, werden die Wahl für uns analysieren. Im Anschluss folgt eine Diskussion der Ergebnisse mit den Experten sowie Claudia Müller, Landesvorsitzende der Bündnisgrünen in MV.