Einheit in der Vielfalt - Wie das europäische Projekt wieder an Schwung gewinnt

Bunte Vielfalt - Glasmurmeln

Auch wenn die Gefahr eines Auseinanderdriftens in der Flüchtlingsfrage vorläufig gebannt scheint, ist die EU in einem beängstigenden Zustand. Wie das europäische Projekt wieder durch freiwillige Kooperation und Koordination an Schwung gewinnen kann, beschreibt Ralf Fücks.

Aus der Geschichte der Europäischen Gemeinschaft lässt sich ein Grundmuster herauslesen, das eine gewisse Zuversicht stiften könnte: Bisher mündete noch jede Krise in eine höhere Stufe der Integration. Tatsächlich folgte die Vertiefung der Gemeinschaft keinem großen Plan, auch wenn das im Nachhinein so scheinen mag. Sie war in erster Linie eine Antwort auf konkrete Herausforderungen. So war die europäische Gemeinschaftswährung eine Folge der von Mitterand und Thatcher misstrauisch beäugten deutschen Einigung. Die Ablösung der D-Mark durch den Euro sollte die geldpolitische Dominanz der Bundesbank beenden und als Gegengewicht zu einem „deutschen Europa“ fungieren.  Die Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen im Rat war eine Antwort auf die Erweiterung der EU.  Der Europäische Stabilitätsmechanismus und die  Bankenunion wurden durch die Finanzkrise von 2008/9 erzwungen. Dieser Tage führt der Schock über die Terroranschläge von Brüssel zu einer vertieften Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste.

Befinden wir uns also gegenwärtig in einer neuen Wachstumskrise der Europäischen Union, angestoßen durch die Massenflucht aus dem Vorderen Orient, die Bedrohung durch den islamistischen Terror und die vielfältigen Konflikte in unserer Nachbarschaft? Es fehlt nicht an Stimmen, die aktuelle Krise zu nutzen, um den nächsten großen Sprung auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat zu wagen. Damit wir uns recht verstehen: Die Parole „Mehr Europa wagen“ entspricht auch meiner Grundhaltung. Und doch klingt der Ruf nach den „Vereinigten Staaten von Europa“ gegenwärtig merkwürdig hohl. Er antwortet auf die manifesten Widersprüche des europäischen Einigungsprojekts mit einem trotzigen „Jetzt erst recht!“. Diese Rechnung wird nicht aufgehen, solange der europäische Fortschritt eindimensional als fortschreitende Zentralisierung gedacht wird. Der Versuch, die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Divergenzen in Europa durch eine weitere Konzentration von Befugnissen an der Spitze zu egalisieren, wird nur die Revolte gegen ein „Europa von oben“ anstacheln. Die Spannungen in der EU lassen sich nicht durch einen voluntaristischen „Großen Sprung nach vorn“ überwinden. Was nottut, ist eine nüchterne Auseinandersetzung mit den Widersprüchen europäischer Integration und den alternativen Optionen für die Zukunft. Entscheidend wird sein, einen produktiven Umgang mit der europäischen Vielstimmigkeit zu finden, ohne den Anspruch auf gemeinsames Handeln aufzugeben.

Auch wenn die Gefahr eines Auseinanderdriftens Europas in der Flüchtlingsfrage vorläufig gebannt scheint, ist die Krise der europäischen Integration noch lange nicht überwunden. Das britische Referendum über den Abschied von der Union ist kein abseitiges Ereignis. Es droht eine schleichende Erosion. In einem solchen Szenario werden die europäischen Institutionen weiter bestehen, allerdings nur als Fassade für die Renationalisierung europäischer Politik. Das Gefährliche der gegenwärtigen Lage ist das Zusammenspiel interner und äußerer Faktoren, die am Zusammenhalt der EU zerren:

  • In der südlichen Nachbarschaft der EU wächst das Konfliktpotential schneller als unsere Fähigkeiten zum Krisenmanagement. Das betrifft die Krise der postkolonialen Staatenordnung im arabischen Raum ebenso wie die zunehmende Instabilität und Unberechenbarkeit der Türkei, die Aufrüstung des Iran und die Gefahr eines Raketenkriegs im Nahen Osten, der die Existenz Israels bedroht.
     
  • Im Osten ist Russland zu einer revisionistischen Macht im doppelten Sinn geworden: Putin betreibt die Ausweitung der russischen Einflusszone und fordert den demokratischen Universalismus heraus. Er hat den Machiavellismus wieder zum politischen Prinzip erhoben. Moskau ist heute das Zentrum einer antiliberalen Internationale, die ihre Netzwerke über ganz Europa ausgespannt hat. Bei uns ist diese Herausforderung immer noch nicht ganz angekommen – in weiten Kreisen überwiegt immer noch eine Vogel-Strauß-Mentalität, die auf Konfliktvermeidung um jeden Preis eingestellt ist.
     
  • Die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise schwelt weiter. Solange es nicht zu einem nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung in den Krisenländern kommt, der die Arbeitslosigkeit reduziert und die Staatseinnahmen erhöht, bleibt die Lage fragil.
     
  • Gleichzeitig haben die Auseinandersetzungen um den Weg aus der Finanzkrise tiefe Spuren in der europäischen Befindlichkeit hinterlassen. Alte historische Fronten sind wieder aufgebrochen. Das betrifft vor allem die faktische Dominanz Deutschlands, die zwiespältige Gefühle bei unseren Nachbarn weckt. Einerseits erwarten sie, dass Deutschland seiner Verantwortung als europäische Zentralmacht gerecht wird, zugleich gibt es tief sitzende Vorbehalte gegen ein „deutsches Europa“.  Besonders heftig wird es, wenn die Bundesrepublik sich anmaßt, als moralischer Lehrmeister aufzutreten. Das wurde schon in der Finanzkrise deutlich, als die deutsche Haltung in weiten Teilen Europas als Mangel an Solidarität empfunden wurde. In der Flüchtlingsfrage kam es jetzt zu einer regelrechten Revolte gegen den „deutschen Alleingang“. In den Augen anderer Regierungen war die zeitweilige Öffnung der bundesdeutschen Grenzen eine unilaterale Entscheidung, für die sie in Haftung genommen werden sollten. Statt dem Beispiel Berlins zu folgen, gingen sie den Weg einer weitgehenden Abschottung ihrer Grenzen. Der schließlich zwischen der EU und der Türkei ausgehandelte Kompromiss entspricht der Form nach dem Drängen Angela Merkels auf eine „europäische Lösung“. Der Sache nach haben sich jedoch die Staaten durchgesetzt, die auf einen harten, restriktiven Kurs gegenüber den Flüchtlingen drängen.
     
  • Gleichzeitig wirkte die Flüchtlingskrise als Katalysator für eine Rückwendung zur nationalen Souveränität als ultima ratio europäischer Staatenpolitik. Zunächst preschte Ungarns starker Mann Orban vor. Die Abschottung der nationalen Grenzen und die Behandlung von Flüchtlingen als feindliche Invasoren wischte faktisch die Genfer Flüchtlingskonvention und die europäische Menschenrechts¬erklärung vom Tisch. In den folgenden Wochen schwenkte ein europäisches Land nach dem nächsten auf eine Politik der Flüchtlingsabwehr um. Die Verriegelung der Grenzen vor den Heimatlosen wurde als Akt nationaler Souveränität gerechtfertigt. Dass damit auch die Axt an das Schengen-Abkommen -einen Eckpfeiler europäischer Integration- gelegt wurde, nahm man in Kauf. Es war eine bittere Lektion in Realpolitik: Die Beschwörung nationaler Interessen bricht im Zweifel europäisches und internationales Recht. Die Bedenkenlosigkeit, mit der die Bundesregierung die Einwände des UNHCR gegen eine massenhafte Abschiebung von Flüchtlingen in die Türkei vom Tisch wischte, zeigt, dass auch der vermeintliche Musterknabe Deutschland nicht frei von der Unterordnung des Rechts unter politische Nützlichkeits-Erwägungen ist.
     
  • Erledigt ist auch die Vorstellung, man könne sich mit Mehrheitsentscheidungen im europäischen Rat über tiefgreifende politische Divergenzen zwischen den Mitgliedsstaaten hinwegsetzen. Das hat sich spätestens bei der innereuropäischen Verteilung von Flüchtlingen anhand fester Quoten als Rohrkrepierer erwiesen. Tiefgreifende politisch-kulturelle Differenzen innerhalb der EU können nicht per Mehrheitsentscheidung übersprungen werden, ohne die Axt an den europäischen Zusammenhalt zu legen. Solange man für alle verbindliche Lösungen anstrebt, führt kein Weg am mühsamen Aushandeln von Kompromissen vorbei. Die Alternative besteht in einer stärkeren Ausdifferenzierung der EU: dann können die Staaten gemeinsame Sache machen, die einen bestimmte Weg gehen wollen, ohne ihn den anderen aufzwingen zu wollen. So könnte die Bundesregierung mit einigen anderen europäischen Regierungen eine „Koalition der Willigen“ bilden, die der Türkei Kontingente für die Aufnahme von Flüchtlingen anbietet, die deutlich über das jetzt vereinbarte Maß hinausgehen. Vergleichbare Abkommen könnten mit dem Libanon und Jordanien geschlossen werden.
     
  • Die größte Gefahr für die Zukunft der EU ist der Vormarsch nationalpopulistischer Bewegungen und Parteien: Marie Le Pen in Frankreich, Jaroslaw Kaczynski in Polen, Pegida und AfD in Deutschland, Geert Wilders in den Niederlanden, Nigel Farrage (UKIP) in England, Viktor Orban in Ungarn, die „wahren Finnen“ und ihre Brüder im Geiste in anderen skandinavischen Ländern, der Flaamse Block in Belgien, Christian Strache in Österreich, rechtsradikale Parteien in der Slowakei, Griechenland und Bulgarien. In vielen Ländern erreicht die neue Rechte zwanzig bis dreißig Prozent der Stimmen. Auch wo sie nicht regiert, prägt sie den öffentlichen Diskurs und treibt die Parteien der Mitte vor sich her. Das wird nirgendwo deutlicher als in der Flüchtlingsfrage, wo sich die regierenden Sozialisten in Frankreich und ihr konservatives Pendant in Großbritannien kaum noch trauen, für die Rechte von Flüchtlingen einzutreten. Die neue Rechte macht unverhohlene Anleihen bei der traditionellen Linken – sie bringt sich als Schutzmacht der „kleinen Leute“ in Stellung, verspricht Protektion der einheimischen Arbeit vor den Stürmen der Globalisierung und geißelt das internationale Finanzkapital. Sie trifft sich mit Teilen der Linken im Ressentiment gegen die USA, der Ablehnung des Freihandels und dem Ruf nach Rückkehr zur nationalen Souveränität.
     
  • Auch außenpolitisch gibt es auffällige Berührungspunkte zwischen der nationalen Rechten und der souveränistischen Linken. Die Europäische Union gilt ihnen als bürokratisches Monster und Herrschafts¬instrument einer neoliberalen Elite. Man gibt sich europäisch, aber auf der Basis eines „Europa der Völker“ und der nationalen Selbstbestimmung. Der Ablehnung der NATO als Gehäuse der amerikanischen Hegemonie entspricht die Sympathie für Wladimir Putin und sein konservativ-autoritäres Projekt. Tatsächlich ist Moskau heute das Zentrum eines europaweiten Netzwerks antiwestlicher Parteien, Vereine und Medien. Die Idee universeller Werte gilt ihnen als bloße Tarnung der hegemonialen Ansprüche der USA. Dagegen verfechten sie das Konzept einer multipolaren Weltordnung mit eigenständigen politisch-kulturellen Räumen. Man fürchtet die Islamisierung Europas, billigt dem Islam aber durchaus seine eigene Herrschaftssphäre zu, aus der sich der Westen gefälligst herauszuhalten hat.

Angst ißt die Seele auf

Hinter den vielfältigen internen Krisenfaktoren liegt ein tiefer gehender Befund: Europa ist heute der zukunftsängstliche Kontinent. Nirgendwo ist die Überzeugung so verbreitet, dass die goldenen Jahre hinter uns liegen. Wir fürchten uns vor allem: vor Globalisierung und Freihandel, digitaler Revolution und Gentechnik, Masseneinwanderung und Islamisierung, Terror und totaler Überwachung. Die Wachstumsdynamik ist gering, die Jugendarbeitslosigkeit in vielen Staaten dramatisch. Die Aufbruchstimmung von 1989/90 ist in Frustration umgeschlagen. Die EU erscheint vielen nicht mehr als Garant von Stabilität und Wohlstand, sondern als Protagonist einer harten Sparpolitik und des Primats der Ökonomie. Das spielt den „Souveränisten“ von rechts und links in die Hände, die das Heil in der Rückgewinnung der nationalen Regulierungskompetenz suchen. Die Zukunft, die sie den verunsicherten Massen versprechen, liegt in der Rückkehr zu einer idealisierten Vergangenheit. Nichts zeigt die Selbstzweifel Europas deutlicher als die verzagte, abweisende Haltung gegen den Zustrom von Kriegs- und Armutsflüchtlingen. Offenbar glaubt ein großer Teil der Bevölkerung (und auch der politischen Eliten) nicht mehr an die integrative Kraft von Demokratie und Marktwirtschaft.

It’s the economy, stupid!

Man mag darin den Mentalitätswandel alternder Gesellschaften sehen, die Veränderungen primär als Bedrohung wahrnehmen. Die europäische Verzagtheit hat jedoch einen harten ökonomischen Kern. Zwar ist die EU der weltweit größte Wirtschaftsraum, man zögert aber, von der stärksten Wirtschaftsmacht zu sprechen. Dazu fehlt es ihr an ökonomischer Dynamik und einer globalen Wirtschaftspolitik. Europa hat sich immer noch nicht von der Rezession erholt, die von der Finanzkrise 2008 ausgelöst wurde. Die einseitig auf Ausgabenkürzungen fixierte Austeritätspolitik, die den insolvenzgefährdeten Ländern auferlegt wurde, wirkte krisenverschärfend. Der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten brach ein, die Jugendarbeitslosigkeit erreichte beängstigende Dimensionen. Zugleich verhinderte die Rezession eine Bereinigung der Schuldenkrise. Sie wird durch die Geldschwemme der Europäischen Zentralbank nur notdürftig überdeckt. Europa krankt an chronischer Investitionsschwäche. Das gilt auch für Forschung, Entwicklung und technische Innovation. Trotz erstklassiger technischer Hochschulen und allerlei staatlicher Förderung mangelt es an Wagniskapital und Gründergeist. Schaut man sich das Portfolio von Investment-Fonds an, die ihr Kapital in die digitale Revolution stecken, sind europäische Firmen nur ganz am Rande vertreten. In den letzten 25 Jahren hat in den meisten europäischen Ländern ein Prozess der Desindustrialisierung eingesetzt, der Millionen von Facharbeiter-Jobs gekostet hat. Deutschland ist auch dieser Hinsicht die Ausnahme. Aber auch hier stehen Kernindustrien wie der Automobilbau vor einem gewaltigen Strukturwandel. Wer gestern noch Branchenführer war, kann morgen schon als Dinosaurier des Industriezeitalters vom Aussterben bedroht sein. Noch verfügt Europa über leistungsfähige Unternehmen, gut qualifizierte Arbeitskräfte, eine relativ gut ausgebaute Infrastruktur und einen breiten öffentlichen Bildungssektor. Aber die Risse im Fundament sind unübersehbar.

Ein Green New Deal für Europa

Die prekäre wirtschaftliche Lage mit all ihren Begleiterscheinungen – Arbeitslosigkeit, Reallohnverluste, grassierende Abstiegsängste in den Mittelschichten, krisenhafte Staatsfinanzen – schlägt auch auf die politische Sphäre durch. Auf ihrem Boden  gedeihen Le Pen & Co. Sie versprechen das Heil in der Abschottung vor Billigkonkurrenz und Masseneinwanderung und beschwören den beschützenden Wohlfahrtsstaat alter Schule. Obwohl die protektionistische Rezeptur die Krankheit nur verschlimmern würde, verfängt sie. Es greift zu kurz, gegen diese Melange aus berechtigten Sorgen und diffuser Wut mit dem Ruf nach mehr Verteilungsgerechtigkeit zu antworten. Die Wurzel des Problems liegt im Mangel wirtschaftlicher Perspektiven in weiten Teilen Europas. Hier muss eine Politik ansetzen, die wieder mehr Zuversicht und Zusammenhalt stiften will. Eine neue Gründerkultur, erleichterter Zugang zu Wagniskapital, Entbürokratisierung, die Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur, Ausbau von Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie eine investitionsorientierte Haushaltspolitik sind das A&O für die Überwindung der europäischen Krise.

Wichtiger als das Gerangel um die Kompetenzverteilung zwischen nationaler und europäischer Ebene ist ihr Zusammenspiel in einer komplementären Strategie wirtschaftlicher Modernisierung. In Zeiten von Klimawandel und Überlastung der Biosphäre (Böden, Meere, Artenvielfalt) muss jede zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik den Bogen zur ökologischen Frage schlagen. Wir stehen an der Schwelle einer weltweiten grünen Revolution, die auf die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Naturverbrauch zielt. Europa hat alle Voraussetzungen, um sich an die Spitze dieser Bewegung zu setzen. Dafür braucht es ambitionierte Ziele und Projekte. Dekarbonisierung der Wirtschaft, Umstellung des Energiesystems auf 100 Prozent erneuerbare Energien, Übergang zu einer abfallfreien Kreislaufökonomie, Modernisierung des Gebäudebestands, Ausbau der öffentlichen Verkehrssysteme, Elektromobilität, ressourceneffiziente Produkte und Technologien sind Stichworte für ein großes Innovations- und Investitionsprogramm, das eine Aufbruchstimmung erzeugen kann.  Es geht um nichts weniger als um einen „Green New Deal“ für Europa, der das Antikrisenprogramm Roosevelts aus den 30er Jahren in die Gegenwart übersetzt. Ein solches Zukunftsprojekt wäre tausendmal wirksamer für den europäischen Zusammenhalt als alle Debatten um eine politische Neuordnung der EU.

Selbstbehauptung Europas

Wenn wir den europäischen Geist wiederbeleben wollen, brauchen wir sinnstiftende, in die Zukunft gerichtete europäische Projekte. Neben der Wiederbelebung der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte – Wohlstand für alle! – geht es heute vor allem um die Selbstbehauptung Europas in einer Welt, in der sich die ökonomischen und politischen Gewichte dramatisch verschieben. Selbstbehauptung ist hier keine rein machtpolitische Kategorie. Sie zielt auf die Bewahrung des „European Way of Life“ - jener spezifischen Mischung aus einer liberalen Gesellschaftsverfassung, Demokratie, kultureller Vielfalt, Sozialstaatlichkeit und einem Versprechen auf soziale Gerechtigkeit, das in Europa stärker ausgeprägt ist als in den USA.  Dennoch ist offenkundig, dass uns mit Amerika mehr verbindet als mit allen anderen Akteuren auf der weltpolitischen Bühne. Die Geschichte der modernen Demokratie ist untrennbar mit den USA verbunden, von den Freiheitsrevolutionen des 18. Jahrhunderts bis zum atlantischen Bündnis gegen den sowjetischen Autoritarismus. Es ist diese demokratische DNA, die den Kern des Westens ausmacht. Ein Europa, das seine liberalen Werte hoch hält, wird immer eine besondere Beziehung zu den USA halten.

Allerdings sind die Zeiten vorbei, in denen sich Europa sicherheitspolitisch im Windschatten Amerikas bewegen konnte. Die USA stoßen an ihre Grenzen als globale Ordnungsmacht. Ihre Kräfte werden stärker im pazifischen Raum gebunden, wo mit China eine neue Weltmacht heranwächst. Die EU ist in einem ganz neuen Maß gefordert, Verantwortung für Konfliktprävention und Krisenmanagement in ihren Nachbarregionen zu übernehmen. Das erfordert eine europäische Nachbarschaftspolitik, die neue und klassische Instrumente miteinander kombiniert: Wirtschaftliche Verflechtung, zivilgesellschaftliche Kooperation und sicherheitspolitische Zusammenarbeit sind kein Gegensatz zu Abschreckung und friedenserzwingenden Interventionen, sondern komplementäre Elemente einer pro-aktiven Außenpolitik. Es ist offenkundig, dass die Herausforderung durch ein neo-imperial gestimmtes Russland und das Gewaltpotential des Vorderen Orients jeden einzelnen europäischen Staat überfordert. Das gilt auch für die Eindämmung des militanten Islamismus, der eine äußere wie eine innere Gefahr darstellt. Hier trifft sich die Notwendigkeit zu gemeinsamem Handeln mit der Chance, dem europäischen Projekt neuen Rückhalt in der Bevölkerung zu verschaffen. Für kaum ein anderes Politikfeld gibt eine so hohe Zustimmung wie für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik.  

Staatenunion und Bürgerunion

Allerdings zeigt dieses Beispiel auch die Möglichkeiten und Grenzen europäischer Integration. Die Vorstellung, dass die europäischen Staaten bereit sein könnten, ihr außenpolitisches Geschick vollständig in die Hand einer europäischen Zentralgewalt zu legen, ist irreal. Auch Mehrheits-entscheidungen sind in substantiellen Streitfragen eine heikle Angelegenheit. Im Unterschied zur Entstehungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika haben wir es in Europa mit eigensinnigen Nationen ganz unterschiedlicher historischer, politischer und kultureller Prägung zu tun. Diese Differenzen lassen sich nicht durch einen dezisionistischen Akt überwinden. Auch bleibt der demokratisch verfasste Nationalstaat (die Republik) auf absehbare Zeit die zentrale Quelle demokratischer Legitimität und politischer Zugehörigkeit. Sie kann durch europäische Formen der politischen Willensbildung ergänzt, aber nicht ersetzt werden. Jeder Versuch einer weiteren Zentralisierung politischer Macht in einer europäischen Exekutive würde nur die zentrifugalen Kräfte in der EU stärken. Es kommt deshalb darauf an, die Felder freiwilliger Kooperation und Koordination zu stärken. Ihr Modus ist nicht die Preisgabe nationaler Souveränität zugunsten eines neuen europäischen Souveräns, sondern das Bündeln von Souveränität. Dabei bleiben die nationalen Regierungen entscheidende Akteure der europäischen Politik. Im Fall der Außenpolitik ist das evident. Ihr Erfolg oder Misserfolg hängt daran, ob sich Berlin, Paris, London im Verein mit anderen Regierungen auf eine gemeinsame Linie verständigen können. Die Kommission agiert als Treuhänder, nicht als übergeordnete Instanz, das Europaparlament kann mitwirken, aber nicht über den Europäischen Rat hinweg entscheiden. Dieser Doppelcharakter der EU als Staatenunion (repräsentiert durch die nationalen Regierungen) und Bürgerunion (repräsentiert durch das europäische Parlament) macht Entscheidungs-prozesse kompliziert, bleibt aber auf absehbare Zeit die angemessene Bewegungsform europäischer Integration. Sie nach der einen oder anderen Seite aufzulösen, würde die EU zerstören.

Mehr Vielfalt wagen

Was aber tun, wenn sich die 28 Mitgliedsstaaten nicht auf eine gemeinsame Politik verständigen können? Die Auflösung dieses Dilemmas liegt nicht in der Delegation politischer Entscheidungsmacht an eine übergeordnete Instanz, sondern in einer stärkeren Binnendifferenzierung europäischer Politik. Die europäischen Verträge haben diesen Ausweg in weiser Voraussicht bereits vorgezeichnet. Wie schon bei der Einführung des Euro oder der Beseitigung innereuropäischer Grenzkontrollen können Koalitionen von Mitgliedsstaaten bei der Vergemeinschaftung bestimmter Politikfelder vorangehen. Statt sich immerzu auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen zu müssen oder widerstrebende Staaten zur Zustimmung zu nötigen, sollte die EU mehr Raum für flexible Kooperation bieten. Weshalb sollten Deutschland und Frankreich nicht mit einigen anderen Staaten beim Aufbau einer europäischen Armee, bei einer stärkeren Koordination ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik vorangehen? Das liefe nicht auf eine Zweiteilung in ein Kern- und Randeuropa hinaus, sondern auf ein variables Netzwerk mit unterschiedlicher Integrationstiefe. Als gemeinsamer Rahmen bliebe die europäische Menschenrechtskonvention, der Binnenmarkt, der Bestand an gemeinsamer Regulierung und die europäischen Institutionen (Europaparlament, Europäischer Rat, Kommission, europäische Gerichtsbarkeit). Eine solche variable Architektur würde auch den Widerspruch zwischen Vertiefung und Erweiterung entspannen. Statt der Türkei oder der Ukraine die Tür zu weisen, muss die EU sowohl Raum für neue Beitrittskandidaten wie für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen jenen Mitgliedern bieten, die dazu bereit sind. Europa ist seiner ganzen Geschichte nach ein Kontinent der Vielfalt, ein Raum der vielen Sprachen, Kulturen, Religionen und politischen Einheiten. Wir sollten diese Vielfalt als Reichtum wertschätzen statt sie in das Korsett eines europäischen Superstaats zwängen zu wollen. Die europäische Herausforderung besteht darin, Kooperationsformen zu finden, die Einheit in der Vielfalt ermöglichen.

Der Essay wurde zuerst veröffentlicht in der Reihe "Zerfällt Europa?" in der Printausgabe der  Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Mai 2016.