Rostock-Lichtenhagen 1992: Höhepunkt einer Welle rechter Gewalt

Bild vom Sonnenblumenhaus

Im August 1992 wurden in Rostock-Lichtenhagen mehrere Hundert Flüchtlinge und vietnamesische Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter Ziel rassistischer Ausschreitungen. Tausende Menschen klatschten Beifall und unterstützten die Angriffe auf das Sonnenblumenhaus, die mehrere Tage andauerten.

Die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen können als die massivsten rassistischen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegsgeschichte und als Pogrom bezeichnet werden. Sie waren eng verknüpft mit einer bundesweiten Debatte über Flucht und Migration und die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl. Herauszustellen sind die Unfähigkeit oder der Unwillen der lokalen Behörden, eine zunehmende Zahl von Flüchtlingen vor Ort angemessen unterzubringen und zu versorgen sowie der sich abzeichnenden Eskalation entgegenzutreten. Rostock-Lichtenhagen war zugleich Höhepunkt einer Welle von Rassismus und rechter Gewalt in der Nachwendezeit, die insbesondere die ostdeutschen Bundesländer erfasst hatte und deren Folgen bis heute nachwirken.

Am 22. August, einem Sonnabend, versammelten sich mehrere Tausend Menschen vor dem Sonnenblumenhaus, einem Wohnblock in Rostock-Lichtenhagen, in dem sich die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber des Landes Mecklenburg-Vorpommern und angrenzend ein Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter befanden. Aus der Menge kam es zu Angriffen mit Steinen und Brandsätzen auf die beiden Einrichtungen und die Polizei. Diese war nicht ausreichend vorbereitet und überfordert, obwohl sogar die Lokalpresse über die bevorstehenden Angriffe berichtet hatte.

Das Geschehen nahm spätestens am nächsten Tag für die Angreiferinnen und Angreifer und jene Tausenden, die sie unterstützten, den Charakter eines Volksfests an. Immer mehr Menschen strömten hinzu, Imbissstände sorgten für Verpflegung. Am Montag, dem 24. August, räumten die Behörden die Flüchtlingsunterkunft. Die Menge erlebte dies als Erfolg, und umso stärker richtete sich die Gewalt nun gegen das Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter. Nachdem sich die überlastete Polizei am Abend zeitweise zurückgezogen hatte, drangen Angreifer in das Haus ein, zerstörten die Einrichtung und legten Feuer. Bis zu 150 Menschen waren in dem Gebäude eingeschlossen, neben den vietnamesischen Bewohnerinnen und Bewohnern ein Fernsehteam und einige Unterstützerinnen und Unterstützer. Es gelang ihnen, einen Durchgang aufzubrechen und über das Dach in ein Nachbarhaus zu fliehen. Aus der Menge vor dem Sonnenblumenhaus hörten sie derweil immer wieder Sprechchöre wie „Deutschland den Deutschen“ und „Wir kriegen euch alle“.

Die Nachwendezeit als „Baseballschlägerjahre“

Die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen waren Teil einer Welle rechter Gewalt, die die Nachwendezeit insbesondere Ostdeutschlands prägten. Zuweilen werden sie inzwischen als „Baseballschlägerjahre“ bezeichnet. Die Zahl rechter Straftaten schnellte in die Höhe, Angriffe auf Flüchtlingsheime und Migrantinnen und Migranten waren alltäglich. Bereits im September 1991 hatte im sächsischen Hoyerswerda eine Menschenmenge mehrere Tage lang eine Unterkunft von Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern aus Mosambik und eine Flüchtlingsunterkunft belagert und attackiert. Auch die Brandanschläge in Mölln im November 1992 und in Solingen im Mai 1993 mit mehreren Toten erregten internationale Aufmerksamkeit. Zivilgesellschaftliche Initiativen zählen mehrere Dutzend Todesopfer rechter Gewalt allein in der unmittelbaren Nachwendezeit.

Die rassistische Gewalt fand zugleich vor dem Hintergrund einer aufgeheizten Debatte um Flucht und Migration statt, die bereits in den 1980er Jahren in der alten Bundesrepublik begonnen hatte. Sie nahm schrille und zum Teil aggressive Töne an, als nach dem Fall der Mauer, dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Beginn des Jugoslawienkriegs die Zahl der Aussiedlerinnen und Aussiedler und der Asylsuchenden zunahm. 1990 wurden ca. 190.000 Anträge auf Asyl registriert, 1991 fast 260.000 und 1992 knapp 440.000. Die Mehrzahl der Flüchtlinge stammte aus Ost- und Südosteuropa, vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Rumänien.

In den Massenmedien und in vielen Äußerungen aus der Politik wurden Flüchtlinge nicht selten pauschal als Betrüger und als Bedrohung dargestellt. Extrem rechte Parteien wie die Republikaner und die Deutsche Volksunion (DVU) verschärften die Debatte und konnten vereinzelte Wahlerfolge erringen. Zunehmend geriet das Grundrecht auf Asyl in den Fokus der Auseinandersetzung. Aus der damaligen Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP kamen Forderungen, das Grundrecht auf Asyl einzuschränken. Lange verweigerten sich die Oppositionsparteien im Bundestag, allen voran die SPD, der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit. Sie betonten die Bedeutung des Asylrechts, das infolge der Verfolgung im Nationalsozialismus zum Grundrecht erhoben worden war.

Die Ereignisse in Rostock machten sich jene zunutze, die sich für eine Grundgesetzänderung aussprachen. Die Welle rassistischer Angriffe führten sie auf die große Zahl von Flüchtlingen zurück, weshalb sie nur mit einer Einschränkung des Asylrechts beendet werden könne. Die SPD schwenkte schließlich um. Im Dezember 1992 einigten sich CDU/CSU, FDP und SPD auf den sogenannten Asylkompromiss. Eine im Mai 1993 vom Bundestag beschlossene Ergänzung des Artikels 16 des Grundgesetzes führte die Drittstaatenregelung ein, wonach ein Asylantrag unzulässig ist, wenn die Antragstellenden aus einem sicheren Land in die Bundesrepublik eingereist sind – worunter alle Nachbarländer Deutschlands fielen. Diese Praxis wurde in das EU-Recht übernommen und hat bis in die Gegenwart weitgehende Bedeutung.

Rostock-Lichtenhagen und die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST)

Auf die zunehmende Zahl von Flüchtlingen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks seit 1989 waren die Behörden insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern, die gerade erst das politische und administrative System der Bundesrepublik übernommen hatten, nicht vorbereitet. Die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST) im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen war für 300 Menschen ausgelegt. Antragstellerinnen und -steller sollten von hier aus auf Unterkünfte in den Landkreisen verteilt werden und nur wenige Tage bleiben. Im Frühjahr 1992 meldeten sich allerdings in jedem Monat bereits 800 bis 900, im Juni mehr als 1.500 Asylsuchende. Sie mussten tagelang auf die Bearbeitung ihrer Anträge warten und fanden keine Unterbringung in dem Gebäude. Unter unwürdigen Bedingungen und ohne sanitäre Anlagen waren sie gezwungen, auf der Wiese vor der ZAST auszuharren. „Es war katastrophal. So viele Leute. Was ich da gesehen habe, war erschreckend“, erinnerte sich ein Betroffener in einer zeitgenössischen Filmdokumentation.

Im Mai 1992 fiel die Entscheidung, im September die ZAST aus Lichtenhagen an den Stadtrand nach Hinrichshagen zu verlegen. Stadt und Land waren jedoch nicht gewillt, bis dahin die Situation zu lindern. „Je besser wir die einen unterbringen, umso größer ist der Zuspruch neuer Asylbewerber am nächsten Tag“, teilte der zuständige Rostocker Innensenator der örtlichen Ostsee-Zeitung mit. Zunehmend fanden sich in der Rostocker Lokalpresse neben Klagen und Beschwerden von Anwohnenden rassistische Ressentiments und Gerüchte. Sie gipfelten wenige Tage von den Ausschreitungen in der offenen Ankündigung von Gewalt: „‚Die Rechten haben die Schnauze voll!’ ‚Wir werden dabei sein’, sagt Thomas, ‚und du wirst sehen, die Leute, die hier wohnen, werden aus den Fenstern schauen und Beifall klatschen’“, zitierte die Ostsee-Zeitung junge Rostocker. Insbesondere wurden Romnja und Roma aus Rumänien Ziel spezifisch antiziganistischer Anfeindungen.

Kontinuitäten des Rassismus

Die Neonazi-Szene feierte Rostock-Lichtenhagen als Erfolg. Rechtsrock-Bands besangen sie mit Liedern wie „Barbecue in Rostock“, rechtsextreme Kader brüsteten sich noch Jahrzehnte später mit ihrer Rolle bei den Ereignissen. Die Welle rechter Gewalt insbesondere in Ostdeutschland dauerte noch mehrere Jahre an. In dieser Zeit übte in den neuen Bundesländern eine neonazistisch beeinflusste Jugendkultur die Hegemonie in vielen Dörfern, Kleinstädten und Neubauvierteln der Großstädte aus und verbreitete ein Klima der Angst. Nicht-rechte Jugendliche und Menschen mit Migrationsgeschichte waren regelmäßig Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt. Über Rechtsrock-Kassetten und -Konzerte, handkopierte Heftchen und Aufkleber und Plakate wurden Rassismus, Antisemitismus und NS-Propaganda verbreitet und setzten sich in den Köpfen einer Generation fest. Viele Ältere blieben indifferent gegenüber dieser Entwicklung oder sympathisierten mit Teilen der rechten Ideologie. Die Folgen wirken bis in die Gegenwart. Noch heute sind rechte und autoritäre Einstellungen in Ostdeutschland stärker verbreitet als im Westen, ist der Zuspruch zur AfD wie auch ihr rechtsextremer Flügel ungleich stärker. In den rassistischen Demonstrationswellen seit 2014 ist die Generation der Nachwende-Rechtsextremen wieder sichtbar geworden.

Erinnerung als Mahnung für die Gegenwart

So ist es nicht verwunderlich, dass das Gedenken an Rostock-Lichtenhagen umstritten ist und Vorbehalte zum Teil bis heute fortdauern. Andererseits haben Zivilgesellschaft, Medien und Politik wichtige Beiträge zur Aufarbeitung geleistet. Seit 2015 fördert die Stadt den Aufbau eines Archivs. Zum 25. Jahrestag der Ereignisse 2017 sind mehrere Mahnmale eingeweiht worden, die das Handeln der damaligen Akteure hinterfragen und die gesamtgesellschaftliche Verantwortung herausstellen. Unter dem Titel „Gestern Heute Morgen“ erinnern die Kunstwerke daran, dass das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen auch in der Gegenwart von Bedeutung bleibt.

Die Gewalt von 1992 hat in einer Zeit stattgefunden, die von der Unsicherheit und den Umbrüchen der Nachwendezeit, von Rassismus in der öffentlichen Debatte und von einer Welle rassistischer Gewalt geprägt war. Dies sind keine Themen der Vergangenheit. Der Umgang mit Migration und Integration, mit antidemokratischen Ressentiments und mit Teilnahmslosigkeit oder sogar Zustimmung zu rechtsextremen Straftaten bleiben auch weiterhin gesamtgesellschaftliche Herausforderungen.

Thomas Prenzel, Politikwissenschaftler, Autor mehrerer Veröffentlichungen über die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen