Erinnerungspolitik braucht den langen Atem - Die Auseinandersetzung mit „Rostock Lichtenhagen 1992“ in der Hansestadt

Lichtenhagen

Lichtenhagen 1992 – Symbol der Baseballschlägerjahre

Das brennende Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen ist eines der medial vermittelten Symbolbilder für Fremdenfeindlichkeit und Rassismus der 1990er-Jahre. Es ist das Bild der Baseballschlägerjahre ostdeutscher Prägung – und damit wie alle Symbole in ihrer inhaltlichen Aussage vereinfachend und verkürzend. Die Liste der Orte der rassistischen Anschläge der frühen 1990er-Jahre ist lang: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen führen in ihrer Bekanntheit die Liste an, zahlreiche andere müssen ergänzt werden. Die herausgehobene Bedeutung von „Rostock-Lichtenhagen 1992“, die die enorme öffentliche Aufmerksamkeit auch nach über 30 Jahren erklärt, ist der besondere Charakter der Ausschreitungen. Aufgrund der Beteiligung breiter Bevölkerungsteile – zwischenzeitlich waren mehr als 3.000 Menschen vor den Häusern – und der klaren rassistischen Motivation ist die Bezeichnung als pogromartige rassistische Ausschreitung zu rechtfertigen. Die fatale Kombination von Politik- und Polizeiversagen lässt auch heute noch Unverständnis aufkommen und gibt Narrativen, die ein bewusstes Herbeiführen der Ausschreitungen für möglich halten, immer wieder Nahrung.

„Rostock-Lichtenhagen 1992“ bleibt vor allem aufgrund seiner intensiven medialen Begleitung im Gedächtnis. Die auf den umliegenden Häusern positionierten Kameras und die zahlreichen Journalist:innen lieferten eine Flut von Bildern und Audiodokumenten, die das Pogrom auch heute noch auf die Bildschirme und in das Gedächtnis transportiert.

Die Ausschreitungen vom Sommer 1992 dokumentieren die Beteiligung von Teilen der Mehrheitsgesellschaft an Rassismus und Gewalt. Das Beklatschen der Täter, das Blockieren der Hilfsmaßnahmen und das nahezu komplette Ausbleiben von Gegenwehr lässt „Rostock-Lichtenhagen 1992“ zum Trauma und Stigma für die Stadtgesellschaft Rostocks werden, durch welches sie aufgerufen ist, sich zu positionieren und Umgang mit dem Ereignis zu suchen.

Eine kurze Geschichte der kommunalen Geschichtspolitik

Noch während die bedrohten vietnamesischen Vertragsarbeitnehmer:innen in einer Notunterkunft untergebracht waren, demonstrierten Rostocker:innen, um sich gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu stellen. Die eilends eingesetzten Untersuchungsausschüsse des Landtages wie der Rostocker Bürgerschaft erfüllten ihren Zweck der Aufarbeitung nur im Ansatz. Der Versuch die Geschehnisse detailliert aufzuklären und Schuldige zu benennen musste aufgrund der engen Verstrickung zahlreicher Beteiligter zunächst scheitern. Und so dauerte es zehn Jahre bis der Rostocker Bürgermeister Arno Pöker im Rahmen einer Gedenkfeier „Fehler“ der Stadt eingestand und sich bei den Betroffenen entschuldigte. Inzwischen hatte sich der Verein „Bunt statt braun“ gegründet und die letzten der wenigen juristischen Urteile waren gesprochen.  

Die Gedenkfeier nach 20 Jahren markiert einen Wendepunkt städtischen Erinnerns. Rassismus, Rechtsextremismus und Gewalt hatten landes- wie bundesweit an Aufmerksamkeit gewonnen: seit 2006 saß die rechtsextreme NPD im Schweriner Landtag, ein Landesprogramm Demokratie und Toleranz war von allen demokratischen Fraktionen verabschiedet worden, auch Bundesprogramme für Demokratie und Toleranz erhielten Aufwuchs. 2011 wurde das rechtsterroristische Netzwerk des NSU enttarnt. Auch in Rostock wurden die Gedenkfeierlichkeiten 2012 intensiver wahrgenommen. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck war eingeladen und vor dem Sonnenblumenhaus fand ein Friedensfest statt. Eine von der Stadt zum 20. Jahrestag vor dem Sonnenblumenhaus gepflanzte Eiche fiel nach wenigen Tagen der „antifaschistischen Aktion Fuchsschwanz“ aufgrund ihres deutsch-nationalen Charakters zum Opfer. Die Unzufriedenheit mit dem Gedenken 2012 führte zur Initiierung einer Arbeitsgruppe Gedenken durch die Rostocker Bürgerschaft, an der bis heute neben Vertreter:innen der Bürgerschaftsfraktionen auch zivilgesellschaftliche Akteur:innen sowie Mitglieder der Universität beteiligt sind. Inzwischen hat sich das Aufgabenspektrum der AG Gedenken von einer Auseinandersetzung mit dem Erinnern an „Rostock-Lichtenhagen 1992“ auf die Bearbeitung eines Gedenkkonzeptes für die Stadt erweitert. Die Arbeitsgruppe ist (kein beschließendes sondern lediglich) ein beratendes Gremium. Erinnerungspolitische Entscheidungen werden daher in Rostock durch Vertreter:innen aus Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft diskutiert und begleitet.

In den Jahren 2012 bis 2022 wurde beim Verein Soziale Bildung e.V. ein Ort der Dokumentation und der pädagogischen Auseinandersetzung initiiert und von städtischer Seite finanziell gefördert. Gedenken und Erinnern benötigt einen geografischen oder virtuellen Ort, an dem Erinnerung möglich ist und Mahnung initiiert werden kann. Das Sonnenblumenhaus mit seinem markanten Mosaik, welches 2022 unter Denkmalschutz gestellt wurde, steht als Symbol für die Tage und Nächte des Angriffs. Das Sonnenblumenhaus zum zentralen Ort des Erinnerns zu erheben, verengt den Blick und reduziert die Verantwortung auf einen Stadtteil. So entschied sich die Bürgerschaft für das von der Arbeitsgruppe Gedenken erarbeitete Konzept des „dezentralen Erinnerns“. Mit markanten weißen Marmor-Stelen werden heute sechs Orte in der Stadt öffentlich sichtbar markiert, die in Verbindung zu den pogromhaften Ausschreitungen stehen. Ziel der Verteilung der Erinnerungsorte in der Stadt ist es, die breite Verwobenheit der Stadtgesellschaft in die Geschehnisse des August 1992 zu zeigen. Das Konzept markierte ursprünglich keinen expliziten Ort für die Opfer, da die Übernahme von Verantwortung im Mittelpunkt stand. Dem Wunsch, eine Gedenk-Stele für die Opfer zu errichten wurde 2018 entsprochen und an das von Beginn an als flexibel geplante Konzept angepasst.

Das Ziel, den Opfern eine Stimme zu geben

Das Ziel, als Ort der Tat auch den Opfern eine Stimme und ihnen Raum im Erinnern und Gedenken zu geben, konzentrierte sich zunächst auf die im brennenden Haus Eingeschlossenen. Eine wichtige Rolle spielte in Rostock der 1992 als Ausländerbeauftragter der Stadt im Sonnenblumenhaus selbst mit eingeschlossene Wolfgang Richter. Auch noch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Ausländerbeauftragten ist er eine wichtige Stimme, die vor allem auch die Community der Vietnames:innen in der Stadt vertrat. Diese hatten aber, bereits kurz nach dem sie sich retten konnten, selbst die Initiative ergriffen und mit der Gründung des Vereins „Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach“ den Rostocker:innen die Hand zum Dialog gereicht. Der Verein ist bis heute ein Träger der Integrationsarbeit und ein wichtiger Akteur erinnerungspolitischen Handelns.

Der Großteil der 1992 als Asylsuchende in und vor der Zentralen Aufnahmestelle in Lichtenhagen wartenden Menschen entstammten der Gruppe der Rom:nja und Sinti:zze. Auch sie waren Ziel der Ausschreitungen, wurden beschimpft und mit Steinen beworfen bis die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber:innen vor dem Brandanschlag geräumt wurde. Die Ereignisse waren für viele belastend und traumatisch. Auf ihr Schicksal hinzuweisen war im Oktober 1992 das Ziel einer Aktion einer Gruppe von Aktivist:innen um Beate und Serge Klarsfeld. Sie wollten mit dem Anbringen einer Tafel an die Diskriminierung der Rom:nja und Sinti:zze bereits in der Zeit des Nationalsozialismus erinnern. Den konkreten Anlass stellte ein kurz zuvor zwischen der Bundesregierung und Rumänien geschlossenes Abkommen dar, das eine Abschiebung der Asylbewerber:innen erleichtern sollte. Als illegale Aktion tituliert landete die Tafel in den Archivkammern der Stadt und einige der Aktivist:innen zunächst in polizeilichem Gewahrsam. 2012 sollte eine neue Tafel die Aktion ins Gedächtnis rufen. Nach dem 30. Jahrestag von Lichtenhagen wird ein endgültiger und angemessener Ort für dieses Anliegen gesucht. Der rassistischen Gewalt in Lichtenhagen 1992 lagen deutliche antiziganistische Motive zugrunde. Das Bild der brennenden Unterkunft der vietnamesischen Vertragsarbeitnehmer:innen zeigt nur eine Seite. Das Eingeständnis des antiziganistischen Motivs dokumentierte sich bereits im August 2017, als Romani Rose als Vertreter der Rom:nja und Sinti:zze zur Eröffnung der Gedenktage in Rostock sprach und sowohl den zunehmenden Rassismus anprangerte als auch den Engagierten in der Stadt dankte.

Vertreter der 1992 betroffenen Rom:nja und Sinti:zze ausfindig zu machen, war spätestens seit 2017 Ziel der Bemühungen der städtischen Verwaltung wie engagierter Mitarbeiter:innen des Projektes „Lichtenhagen im Gedächtnis“. 2022 war es schließlich vor allem durch das Engagement des Vereins Soziale Bildung e.V. gelungen, Betroffene ausfindig zu machen. Interviews konnten dokumentiert und veröffentlicht werden und die Tochter aus einer 1992 vor dem Sonnenblumenhaus angegriffenen Familie sprach 2022 im Rathaus anlässlich des 30. Jahrestages.

Die Generation nach Lichtenhagen / pädagogische Angebote

Die Erinnerung an Rostock-Lichtenhagen 1992 bleibt eine Daueraufgabe kommunaler Erinnerungspolitik. Viele in der Stadt möchten das Erinnern hinter sich lassen und sprechen davon, nun endlich die „Ereignisse ruhen zu lassen“. Dennoch bleibt das Narrativ „Lichtenhagen 1992“ und die besondere Verantwortung immer wieder lebendig. So verweist das Integrationskonzept der Hansestadt auf die besondere Verantwortung aus Lichtenhagen 1992. Im Rahmen der Zuwanderung vom Sommer 2015 bis 2016 war in Rostock immer wieder zu hören, Zustände wie 1992 vor dem Sonnenblumenhaus unbedingt verhindern zu wollen. Auch auf Druck zivilgesellschaftlicher Akteur:innen, wie vom Bündnis „Rostock hilft“, wurden öffentliche Gebäude relativ schnell zur Verfügung gestellt und Spenden gesammelt.

30 Jahre Lichtenhagen und der Blick nach vorne

Die Verantwortung, die sich aus den pogromhaften Ausschreitungen im August 1992 für die Stadt und die Stadtgesellschaft ergibt, lassen die junge Generation in den Blick rücken. So liegt ein Schwerpunkt des von der Stadt finanziell unterstützten Archivs „Lichtenhagen im Gedächtnis“ auf der pädagogischen Arbeit. Die jährlichen Gedenktage im August werden von pädagogischen Angeboten für Schulklassen begleitet.

Im erinnerungspolitischen Handeln der Hansestadt bleiben sicherlich viele Lücken. Breite Bevölkerungskreise werden von den Aktivitäten nicht erreicht. Auch werden die sechs Marmorstelen von vielen Betrachtenden nicht als Hinweise auf „Rostock-Lichtenhagen 1992“ verstanden.

Dennoch kann Rostock für sich reklamieren, die Verantwortung nicht zu verdrängen und durch das Zusammenspiel von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, kommunaler Verwaltung und Verantwortungsträger:innen Erinnerungspolitik als gesellschaftliche und staatliche Aufgabe ernst zu nehmen. Diese enge Kooperation ist zum einen die Voraussetzung, um durch breite Beteiligungsprozesse und mehrmals jährlich stattfindende Planungsbesprechungen ein kontinuierliches sowie auf die Tage im August fokussiertes Erinnern und Gedenken mit zahlreichen Veranstaltungen in der Stadt zu organisieren. Zum anderen ist sie die Basis auf der auch kontroverse Debatten geführt werden können und ein inhaltlicher Austausch stattfinden kann.

 

Dr. Gudrun Heinrich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin der Arbeitsstelle Politische Bildung an der Universität Rostock. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit dem Gedenken an „Rostock-Lichtenhagen 1992“, bietet hierzu gemeinsam mit Studierenden immer wieder Projekttage für Schüler:innen an und ist seit 2014 Mitglied der von der Rostocker Bürgerschaft gegründeten Arbeitsgruppe Gedenken der Hanse- und Universitätsstadt Rostock.